Kindheit und Jugend
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Kindheit und Jugend

Rosa Jochmann wurde im Juli 1901 als viertes von sechs Kindern einer Wiener tschechischen ArbeiterInnenfamilie geboren. In der Brigittenau, dem 20. Wiener Gemeindebezirk, wurde sie getauft. Ihre Kindheit erzählt von den schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen einer ArbeiterInnenfamilie um die Jahrhundertwende. Zwei der Geschwister Rosa Jochmanns verstarben bereits früh. Ihre Eltern, Karl und Josefine Jochmann, waren aus den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie nach Wien migriert.
 
Von der Brigittenau übersiedelte die Familie nach Simmering, dem 11. Wiener Gemeindebezirk, dem Rosa Jochmann bis an ihr Lebensende verbunden bleiben sollte. Die Familie bezog zuerst eine Wohnung in einem Zinshaus und dann in einem der sogenannten Krankenkassenhäuser in der Braunhubergasse. Die Mutter arbeitete als Wäscherin, im Haushalt und als Dienstbotin, der Vater als Eisengießer. Aufgrund seiner Aktivitäten bei den tschechischen Sozialisten war er häufig ohne Arbeit. Rosa Jochmann wuchs mit Tschechisch und Deutsch zweisprachig auf.
 
Als Rosa vierzehn Jahre alt war, verstarb ihre Mutter an multipler Sklerose. Der ältere Bruder kam aus dem Ersten Weltkrieg mit einer Lungenkrankheit zurück, der er erlag; der Vater verschied keine sieben Jahre später. Nach dem Tod der Mutter übernahm Rosa Jochmann die Sorge für ihre zwei jüngeren Schwestern, Josefine (Peperle) und Anna (Antschi). Von 1915 bis 1916 war sie Hilfsarbeiterin in der Süßwarenfabrik Victor Schmidt & Söhne. Anschließend wurde sie in der Kabelfabrik Ariadne kriegsdienstverpflichtet. Als sie einmal während der Nachtschicht beim Wickeln der Kabeltrommeln einschlief, zertrümmerte sie sich ihre Finger im Schwungrad.

Danach arbeitete Rosa Jochmann in der Kerzenfabrik Apollo und schließlich in der Firma Auer, die Gasglühstrümpfe erzeugte. Sehr bald schon übernahm sie die Funktion einer Betriebsrätin und wurde für die Gewerkschaft aktiv. 1920 wählte sie die Belegschaft der Firma Auer zur Betriebsratsvorsitzenden.
 
Verein der Geschichte der Arbeiterbewegung (2008): „Rosa Jochmann. Eine außergewöhnliche Frau. 1901-1994“, VGA, Dokumentationen 3&4/2008, S. 13.
© VGA
Rosa Jochmann (1. v. r. ) mit Familie, Anfang des 20. Jahrhunderts

„[U]nser ALLERBESTER BÖHMISCHER VATER (…) war Eisengießer wie mir später ein Kollege von ihm sagte ein sehr GESUCHTER – aber er fand schwer Arbeit und zu Fuß wanderte er nach LEOBEN und kam nur am Sonntag nach Hause. (…) An sie, an meine Eltern dachte ich, die von ALLEM ausgeschlossen waren was das Leben so reich macht und machen kann. (…) Ihr ganzes Leben war Arbeit und wieder Arbeit (…) – wir hatten nur Zimmer und Küche – waren zuerst 6 Kinder und hatten immer 2 Bettgeher – später waren wir nur mehr 4 Kinder (…). Wenn nun mein Vater von der Arbeit heimkam und er wusch sich, da sah ich immer die rote Narbe auf seiner rechten Schulter, sie stammte von dem Säbel eines Berittenen und ich war dabei. Es wurde um das Wahlrecht demonstriert und er nahm mich überall mit, also sah ich den säbelschwingenden Wachmann – man hatte uns in die Einfahrt des Simmeringer Brauhauses gedrängt und mein guter Vater bekam einen Säbelhieb und der Berittene sprengte davon.“

(VGA, NRJ, K8M54, Rosa Jochmann an Rainer Mayerhofer, 31.01.1985, 2 Seiten, S. 1, Großschreibung im Original)

 
N2/35, Um 1910.
© VGA
„Armeleute-Kinder“ im Hof des Pawlatschenhauses Römersthalgasse 1, Simmering.
Rosa Jochmann in der letzten Reihe sitzend (3. v. l.)

Die Familie Jochmann übersiedelte nach Simmering, zunächst in ein Zinshaus in der Römersthalgasse. In der kleinen Zimmer-Küche Wohnung nahmen die Jochmanns, wie es damals in armen ArbeiterInnenfamilien üblich war, Bettgeher auf. Später zog die Familie in eine Wohnung der auf Initiative des sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten Laurenz Widholz erbauten sog. Krankenkassenhäuser in der Braunhubergasse.

 
N2/34
© VGA
Abschluss des Arbeiter-Stenographie-Kurses, 1912

Im Alter von elf Jahren konnte Rosa Jochmann als gute Schülerin einen Maschinenschreib- und Stenographiekurs für Arbeiter in Simmering absolvieren. Einen ihrer Wunschberufe, etwa jenen der Lehrerin, konnte sie nicht erlernen. Mit vierzehn Jahren begann sie, in der Fabrik als Hilfsarbeiterin zu arbeiten. Nach dem frühen Tod der Mutter übernahm sie zudem die Hausarbeit und die Sorge um ihre Geschwister.

Anfang der 1980er Jahre erinnerte sich Rosa Jochmann in einem Brief an Herbert Steiner, den langjährigen Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW), an ihre Kindheit:

„Ich schlafe schlechter als schlecht – dabei war einer der wenigen Träume meiner Jugend, dass ich einmal ausschlafen werde können, denn das konnte ich nie, weil ich meine arme Mutter (…) durch 6 Jahre hindurch pflegen musste, damals war ich kaum 9 Jahre jung und ich musste für meine drei Geschwister sorgen und für meinen Vater und dabei war ich Vorzugsschülerin, dass ich jetzt auf der Maschine Dir schreibe verdanke ich diesem „Vorzug“, denn ich war eine von den 3 Schülerinnen, die zur Belohnung in der 3. Bürgerschule am Karlsplatz maschinenschreiben lernen durften, natürlich ging ich zu Fuß von der Braunhubergasse auf den Karlsplatz. (…) Also mit dem Schlafen war es schlecht bestellt, denn ich lag neben meiner armen guten Mutter und jede Nacht musste ich einige Male aufstehen um sie einzureiben (…)“

(VGA, NRJ, K10M69, Rosa Jochmann an Herbert Steiner, 13. Juni 1982, 2 Seiten, S. 1).

 
 

Texte und Zitate:

ArbeiterInnen-Kindheit in Simmering

Ich bin am 19. Juli 1901 in der Brigittenau geboren und in der Brigittakirche getauft worden. Meine Mutter war sehr fromm und sehr katholisch, mein Vater war Sozialdemokrat (…).

Wir sind aus einer sehr armen Familie, wir waren sechs Kinder, und später - meine Mutter ist schon mit 41 Jahren gestorben, und zwar im Jahr 1914 - haben mir die Leute erzählt, daß meine sehr katholische Mutter trotzdem einige Male bei den berüchtigten Frauen gewesen ist, weil einen Arzt konnte sie sich nicht leisten (…).

Zwei der sechs Kinder sind sehr bald gestorben. Aber wir hatten immer zwei Bettgeher. Und zwar war das so: Wir haben Zimmer und Küche gehabt, später dann ein ganz kleines Kabinett in der Grillgasse in Simmering. Wir, d.h. meine liebe Mutter, haben die Wohnung nicht gesucht nach dem Grundsatz Licht, Luft und Sonne, sondern: Wenn´s um eine Krone billiger war, dann war das die Wohnung für uns. Denn für eine Krone mußte meine Mutter in den Waschküchen der reichen Leute einen Tag arbeiten. Und eine Krone hat zwei Laib Brot bedeutet (…).

Es war für uns unvergeßlich, wenn die Mutter, die in die Bedienung gegangen ist, einmal zu Hause blieb, wenn dann auch die Großmutter gekommen ist, sie ist zu Fuß von Brünn dem Geleise nach bis Wien gegangen, eine Bahnkarte konnte sie sich nicht kaufen, die waren auch arme Menschen. Am Rücken hat sie ein Tuch gehabt, in dem Tuch war ein riesiges selbstgebackenes Brot, am Arm einen Korb, der war voll mit Golatschen und Buchteln (…).

Es war eine sehr armseelige Kindheit, und trotzdem, muß ich sagen rückblickend, deshalb weil es gute, primitive Eltern waren, - meine Mutter hat keine Ahnung von Beethoven und Goethe gehabt, auch mein Vater nicht - trotzdem hatten sie so eine menschliche Wärme, und sehr klug waren sie beide trotzdem, man muß ja nicht sehr gebildet sein, man kann trotzdem gescheit sein, meine Eltern waren es, die haben uns viele Regeln für das weitere Leben gegeben (…).

Mein Vater hat mich seltsamerweise, obwohl mein Bruder um vier Jahre älter war, zu den Versammlungen mitgenommen. Da gibt´s noch heute dieses Wirtshaus Schwagerka in Simmering, da hatten die tschechischen Sozialdemokraten ihre Versammlungen (…).

Lehrerin konnte ich nicht werden, weil das damals sehr viel Geld gekostet hat, und außerdem ist ja meine Mutter gestorben, und mein Vater auch bald; ich mußte also für meine Schwestern und Brüder sorgen. 14 Tage vor meinem 14. Geburtstag stand ich beim Zuckerl-Schmidt auf der Geiselbergstraße, weil meine Freundinnen gesagt haben: ´geh zum Zuckerl-Schmidt, weil dort kannst´ - es war ja schon der Krieg, das Fünfzehnerjahr - ´weil dort kannst Schokolade und alles mögliche essen, Marzipan und Keks und so.´(…).

´Aber ich bin nicht zu den Zuckerl gekommen, sondern in die Senfabteilung. Ich habe trotzdem Marzipan und Zuckerln und alles mögliche gekriegt, weil das Tauschgeschäft zwischen den Abteilungen florierte damals, und ich hoffe, es floriert auch heute noch. Man konnte essen, was man wollte, nur mitnehmen durftest du nichts, und ich hätte es auch von meinem Vater aus nie dürfen (…).

Wenn du aus dem Betrieb hinausgegangen bist, stand die Frau Portier dort, die hat einen großen Sack gehabt, in dem waren rote und schwarze Kugeln, da mußtest du hineingreifen, und ich habe immer damals schon die rote Kugel erwischt und nicht die schwarze. Denn die schwarze hat bedeutet: Du wurdest splitternackt ausgezogen und an allen möglichen und unmöglichen Stellen untersucht, ob du irgendetwas mitgenommen hast (…).

Ich war eine Hilfsarbeiterin. Ich sage aber jetzt nicht: nur eine Hilfsarbeiterin, weil ich bin ja eine - es gibt einen Stolz der Adeligen - ich bin also eine stolze Proletarierin, bin immer stolz darauf, daß ich Hilfsarbeiterin gewesen bin. Denn ich glaube nicht, daß es eine solche Solidarität und Verbundenheit ich weiß nicht, ob es das heute noch gibt, unter den Höherstehenden gibt, wie sie es unter den Arbeitern gegeben hat.

Ich war die Jüngste und habe Nachtschicht arbeiten müssen, damals schon, obwohl ich nicht einmal fünfzehn Jahre alt war. Die Nachtschicht hat um sieben Uhr begonnen und war - mit einer halbstündigen Unterbrechung in der Nacht - um sechs Uhr früh aus. Jetzt ist oft der Meister gekommen und hat gesagt: ´Roserl, du mußt auch beim Tag hierbleiben, weil deine Ablöse nicht gekommen ist, sie ist krank geworden. ´Das war die Frau Frank, die war wie eine Mutter zu mir. Sagt er: ´Legst dich da in den Winkel hinein, schläfst eine Stunde und dann mußt du halt deine Tagschicht machen.´

Ja, ich war nicht traurig, ich war glücklich, denn ich wußte, daß ich mehr verdienen würde. Aber wie die Tagesschicht aus war, ist er wieder gekommen und hat gesagt: ´Rosa, jetzt mußt du aber wieder dableiben in der Nachtschicht... ´Der Betrieb ist unter kriegswirtschaftlichem Ermächtigungsgesetz gestanden. Wir haben Kabel gemacht, es war eine schwere Arbeit. Einmal bin ich in die Maschine gekommen, habe ja den Finger dadurch verkrüppelt. Also da bin ich 36 Stunden im Betrieb gewesen mit nicht einmal noch fünfzehn Jahren (…).

(Abgedruckt in: Rosa Jochmann. 1901-1994. Demokratin, Sozialistin, Antifaschistin. VGA-Dokumentation 2/2001, S. 4-5.)

Meine Schwester Peperl

Meine Schwester Peperl

Wir waren zuerst 6 Kinder, 2 starben noch in den Kinderjahren, unser Bruder Karl der sehr begabt war starb an Lungen-Schwindsucht.

Eines Tages musste ich mir Schuhe anziehen – obwohl wir im Oktober noch barfuss gingen um Schuhe zu sparen, ich wurde auf Glanz hergerichtet, meine beiden Schwestern auch, denn SO sagte meine Mutter „Wir gehen zum Herrn ARMENRAT er wird unseren Karl auf Kur schicken und er wird wieder gsund werden. Da meine Mutter in die Bedienung ging standen wir schon um 7 Uhr vor der Tür des Armenrates. Meine Mutter schärfte uns ein Kuss die Hand zu sagen und die Hand zu küssen.das war uns sehr unangenehm, aber es kam gar nicht dazu, denn der Herr Armenvater riss die Tür auf, im Vorzimmer sahen wir ein riesiges Kreuz hängen und als meine Mutter ihre Bitte vortrug, da brüllte er: Das würde euch so passen, zuerst setzt ihr die Bankerten in die Welt und dann sollen wir sie euch erhalten. Nix da und bumms flog die Tür wieder zu.

Da sagte Peperl „Mutter wieso heisst denn der Herr Armenvater, der ist ja gar kein Vater" und meine gute Mutter die für alle Verständnis hatte meinte „Es gibt eben viele arme Leute und Allen kann er nicht helfen.“ Da fing Peperl zu weinen an „Nicht wahr da muss unser Karl sterben.“ Und sie hörte von Leuten, dass Spitzwegerich für Lungenkranke heilsam sei und so gingen wir jeden Tag Spitzwegerich suchen, kochten ihn ein, aber unser Karl musste sterben. Das gehört eigentlich nicht dazu aber es fiel mir eben ein.

Perperl war die Jüngste, aber damals schon, sie fing gerade an, in die Schule zu gehen, war sie es deren ganze Sorge der Familie galt. Einmal, da war sie 8 Jahre jung, lag ich schon im Bett und hörte draussen ein Geräusch, als ich Nachschau hielt, fand ich Peperl damit beschäftigt die Küche, den Boden zu reiben und sie sagte „Damit die Mutter schlafen gehen kann, wenn sie kommt.“ Vieles müsste ich erzählen, aber es würde zu weit führen. Mit vierzehn Jahren kam sie in die Fabrik in die Kerzenfabrik, bald sagte der Meister zu mir (ich habe auch dort gearbeitet) aber ihre Schwester ist ein Wunder was sie arbeitet ist fehlerfrei und dabei hilft sie auch noch den Anderen (…).“

(K9M58, Manuskript, Textfragment, „Meine Schwester Peperl“, o. D., 2 Seiten, S. 1, Großschreibungen im Original)


Böhmischer Prater

An den Wochenenden ging der Vater manchmal mit den Kindern in den Böhmischen Prater im heutigen 10. Wiener Gemeindebezirk. Dort gab es Gasthäuser und auch einen kleinen Vergnügungspark. Der Böhmische Prater lag neben den großen Ziegelfabriken am Wienerberg, wo viele ArbeiterInnen, insbesondere aus den ehemaligen Gebieten Böhmens und Mährens, beschäftigt waren.

Rosa Jochmann erinnerte sich an die Ausflüge mit dem Vater:

„Er hat das natürlich auf tschechisch gesagt, wenn wir verlangt haben, dass wir irgendwas bekommen sollen – wenn wir zum Beispiel hier, am Laaerberg, zu dem tschechischen Fest gegangen sind, die waren ja immer hier, da sind die ganzen Tschechen zusammengekommen, und wir wollten, dass der Vater uns Würstel kauft, hatt er immer gesagt: „As, pride Pan Marx“ (Wenn der Herr Marx kommt). (…) Am abend mussten wir beten. Das hat der Vater vor allem verlangt – und natürlich auch meine Mutter.“

(VGA, NRJ, K10M68, Rosa Jochmann im Gespräch mit Trautl Brandstaller: „Kritik ist das Salz jeder Partei“, Auszug aus der Sendung „Prisma“, in der ORF Nachlese, 6 Seiten, S. 1.)

Videos:

Porträt Rosa Jochmann. Rosa Jochmann spricht über ihre Kindheit und ihr Leben in der Sendung “Zeitgenossen”, 18. März 1988

 

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